Was ist das für ein Typ, der handgefertigte Stahlrahmen mit Kritzeleien beschmiert und davon auch noch leben kann? Dario Pegoretti heißt er. Kurz vor seinem Umzug nach Verona haben wir uns in seiner Werkstatt im Valsugana besucht.

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© Oliver Soulas

Veneto. Mist, wir sind zu weit gefahren. Schuld daran ist diese Diskussion. Es geht darum, was den Unterschied ausmacht. Beim Fotografieren zum Beispiel. „Natürlich ist Mittelformat kompliziert, unhandlich, analog und teuer, aber da kommt was ganz anderes raus, als dieser superscharfe, überzeichnete Einheitsbrei,“ sagt Oliver gerade.

Wir sind auf dem Weg zu Dario Pegoretti. Auch er macht keinen Einheitsbrei. Die Kritzeleien auf seinen Maß-angepassten Rahmen sind ein bisschen mehr als Geschmacksache, eine Art Markenzeichen, weswegen auch öfter von Kunst die Rede ist. Die Liste der Bestellungen ist lang. Wer einen Pegoretti-Rahmen will braucht Zeit.

Suche nach dem Echten

Wir drehen um und es bleibt noch etwas Zeit zu philosophieren: Warum ist Handarbeit wieder gefragt? Wegen der Qualität, klar. Die Leute, die es sich leisten können, haben die Schnauze voll von Dingen, die nach ein paar Monaten den Geist aufgeben.

Es scheint in unserer individualisierten Gesellschaft aber auch ein gesteigertes Bedürfnis nach einzigartigen Produkten zu geben. Produkte mit Hintergrund. Kleine Geschichten, die es lohnt zu erzählen. Das sind die neuen Statussymbole. Etwa eine handgegerbte Ledertasche, von der man berichten kann, dass man sie im hintersten Winkel Österreichs abholen musste, dabei durch die Werkstatt geführt und ungefragt geduzt wurde. Der Handwerker selbst natürlich lässig, weil er nicht nur auf sein Äußeres pfeift, sondern auch noch mit Muse an den Dingen arbeitet. Das ist es, was der gestresste und zunehmend abstrakt arbeitende Mensch von heute will, wenn er es schon selbst nicht leben kann: das Ergebnis eines einzigartigen Arbeitsprozesses eines Typen mit Charakter.

Hinzu kommt sicherlich, dass Handgemachtes auch noch nachvollziehbar hergestellt wird: ein Handwerker, der Rohstoff, eine Werkstatt, das Endprodukt. Genau das Richtige für alle, die in unserer arbeitsteiligen, globalisierten, komplexen und leistungsgetrimmten Welt den Überblick verloren haben und sich nach Einfachem sehnen. So wie bei Dario? Wir werden sehen.

Endlich im Valsugana angekommen geht es unter einer Schnellstraße durch, über Bahngleise drüber, entlang einer einspurig holprigen Teerstraße. Die Sonne steht hoch am Himmel, davor strahlen weiße Schneegipfel, das Tal bleibt davon seltsam unberührt, leblos und grau. Wir biegen um eine Ecke: „Dario Pegoretti“ steht da ganz unaufgeregt über einer Eingangstür. Ein junger Kerl öffnet, Oliver drückt ihm einen Kasten Augustiner-Bier in die Hand. „You are welcome“, begrüßt uns Marco und nimmt den Kasten grinsend entgegen. Das Vorzimmer verschluckt uns. Die Sonne, die Berge, der Schnee – all das bleibt draußen. Hier herrscht das Licht einer Neonlampe über einem niedrigen Couchtisch mit quellenden Zigarettenstummel auf einem Teller neben einer Flasche Wein. Leere Plastik-Kaffeebecher stehen herum. Es riecht nach kaltem Rauch, die Wände sind beschmiert. Zwischen zerwohnten Möbeln ragen zwei Lautsprecherboxen, überall stapeln sich Bücher, Magazine, Kataloge, CDs, davor stehen ein paar alte Räder. Wie im Kifferzimmer einer Studenten-WG.

Marco zieht uns gleich weiter in die große Halle. Ein italienischer Radiosender krakeelt im Hintergrund. Dann betritt Dario die Szene, füllt sie aus, bis er sie beherrscht. Zwischen den Lippen hängt eine Zigarette. Eine Erscheinung, eine ungepflegte. Die zotteligen Haare sind lang und grau. Irgendwann muss es auf seinem Kopf einen Haarschnitt gegeben haben. Es war ein Fokuhila. Über seinen breiten Schultern hängt ein Strickpulli, bei dem nicht klar ist, ob der Kordkragen dazu oder zu einem Hemd darunter gehört. An den Beinen schlabbert eine fleckige Jeans, aus der nackte Füße in geschlossenen Hauschuhen ragen.

Dario hasst Druck

Er begrüßt uns mit tiefer Stimme und einem – wie könnte es anders sein – festen Händedruck. Cafe? Aber sicher. Er drückt Marco ein Geldstück in die Hand und schickt ihm zum Automaten. Es kommen zwei Espressi zurück, die man dem hässlichen Gerät gar nicht zugetraut hätte. Dario spricht Englisch. Sobald er merkt, dass Oliver gut Italienisch versteht und ich nicht nur verstehe, sondern auch spreche, wechselt er in seine Muttersprache. „Ma Heidi“, wird er immer wieder sagen, „parla italiano!“, wenn ich mir der Einfachheit halber ins Englische flüchte.

Neben Dario und Marco sind noch Pietro und Diego da. Alle zusammen sind sie die Firma „Dario Pegoretti“. Dario erklärt kurz angebunden, dass es viel zu tun gibt. „Alle wollen immer alles gleich und denken, sie können mit Geld alles bekommen.“ Er, Dario Pegoretti, hasse Druck. Schon sitzt er wieder an einem Arbeitsplatz. Zeit zum Umsehen. Zurück ins Kifferzimmer.

Auch hier hängt die für Werkstätten obligatorische Nackte, immerhin eine stilvolle. Sie steigt gerade auf einen Brooks-Ledersattel. Darunter auf einer Kommode ein geöffneter Brief. Ein Fan hat sich erlaubt, Dario zu schreiben und ihm CDs von Jaco Pastorius geschickt. An der Wand steht auf einer großen Tafel: „Dario ist 1. böse, 2. Materialist, 3. von der Familie aus Verona ruiniert worden, 4. nicht demütig.“ Und weiter: „Dario hat 1. das Herz seiner Mutter gebrochen, 2. nur Ärger gemacht, 3. alles, 4. Mechaniker werden wollen, obwohl seine Familie in ihm einen Lehrer gesehen hat.“

Zurück in der Halle lässt sich niemand von uns stören. Den Druck, von dem Dario sprach, kann ich weder spüren noch sehen. Pietro versucht unmotiviert eine der Stahlschneidemaschinen zu reparieren und angelt mit einem Magnet nach einem abgebrochenen Zahnrad. „Lavoro di merda“. Scheißarbeit. Marco steht an der Lehre und bastelt in aller Ruhe mit viel Akribie Stahlrohre zu einem Rahmen: zuschneiden, feilen, anlegen, noch ´mal schneiden, feilen, anlegen, schneiden, feilen anlegen u.s.w. Diego sucht ausführlich nach den runden, durchsichtigen Aufkleberchen, die er zum Schutz vor dem Lack auf die Montagepunkte der fertigen Rahmen klebt, kleine Drehgewinde für Flaschenhalter etc. Und Dario sitzt mit einer Kippe in der einen, einem Acrylstift in der anderen Hand an einem Rahmen und bekritzelt ihn. Ja, bekritzelt. Er malt nicht, er zeichnet nicht, er kritzelt wie ein sehr zu groß geratenes Kind. Voller Stolz und ganz ernst setzt er einen kurzen Strich neben den nächsten. Als hätte er einen Plan, der nun für ihn erkennbar ist. Auf seiner Nase sitzt eine dunkel umrahmte Brille. Das Brillen-Band hängt ihm vor den Augen. Volle Konzentration. Ich persönlich finde diese bekritzelten Rahmen ja hässlich. Oliver auch.

Alles passiert in lähmender Langsamkeit. Oder ist es Vollkommenheit, die keine Hektik erlaubt? Ist das der kleine Unterschied, von dem Oliver und ich vorhin im Auto gesprochen haben? Das Mehr an Achtsam- und Genauigkeit?

Keine Rahmen für Italiener

Diego und Pietro gucken mittlerweile eine gefühlte Ewigkeit auf eine Gabel, an der sie eine Unebenheit im Lack erkannt haben wollen. Oliver sieht nichts. Ich sehe nichts. „Doch, das muss noch einmal gemacht werden.“ „Ich habe wenig deutsche Kunden“, sagt Dario im Hintergrund ohne Zusammenhang, „bei denen ist Eins plus Eins immer Zwei und sie sehen alles nur technisch. Aber im Leben kann man nicht immer alles messen.“ Dario hat es nicht so mit nettem Smalltalk. Er wirkt nicht nur ungepflegt, sondern auch unwirsch. Dazu passt auch, dass er auf seiner Internetseite provokativ damit begrüßt, nicht mehr an Italiener zu verkaufen. Warum? Die reden ihm zuviel in sein Handwerk rein. Das kann er nicht leiden, das zeigt sich auch beim Design. Da kann der Kunde nur den Stil der Lackierung wählen, aber nicht genau bestimmen, wie sie am Ende aussehen wird. Individualität. Dafür ist der Rahmen dann in allen Maßen und in der Geometrie exakt an den Kunden angepasst. Qualität.

Und was ist die Geschichte? Sie ist kurz erzählt: Eigentlich wollte Dario in seiner Jugend Rennen fahren und war auf der Suche nach einem Job, mit dem sich Geld verdienen ließ. Also stieg er 1957 bei seinem späteren Schwiegervater Gino Milano in den Rahmenbau ein. Es wurde nichts aus der Rennradkarriere, dafür verliebte er sich ins Rahmenbauen. Bis heute. Verlieben, das ist für ihn Lust, Hingabe, Leidenschaft, Muse und eben auch ein wenig Starrsinn. Die Geschichte hinter seinen Rahmen ist ein Versprechen. Das Versprechen, mit einem Rahmen auch etwas von diesem Typen mit zu kaufen, der sich den marktwirtschaftlichen Grundprinzipien verweigert und mit seiner Firma nicht wachsen will. Verknappung des Angebots. Handmade in Italy. Das funktioniert bis nach Taiwan, der heutigen Wiege des Carbonrahmenbaus. 16.40 Uhr: Feierabend für Marco, Diego und Pietro.

Das Geheimnis seines Erfolgs?

20 Uhr. Wir sind mit Dario zum Abendessen verabredet. Er kommt 20 Minuten zu spät und  sieht so aus, als käme er direkt aus der Werkstatt: gleicher Pulli, gleiche Hose, gleiche Hausschuhe – seine Finger und Nägel sind noch schwarz. Was ist das Geheimnis Deines Erfolgs? „Ich weiß es nicht.“ Pause. Guter Stahl, sagt Dario, das sei ein Problem. Columbus, die italienische Stahlschmiede, habe die Produktion verringert. Für mehr als 300 Rahmen bekomme er gar kein Material mehr her. Auch so sei schon ständig einer mit der Stahl-Beschaffung beschäftigt. Er jammert noch ein wenig über die vielen Abgaben, die er an den Staat zahlen muss. Dann wieder ich: „Dario, was ist das Problem des italienischen Rahmenbaus?“ „Die Alten sterben weg. Denen ging es noch um die Rahmen. Den Jungen geht es nur ums Geld“, antwortet er ohne zu zögern, „aber eigentlich geht es doch gar nicht so schlecht, die Italiener jammern bloß gern.“ …

Nächster Tag. Als wir kommen sind schon alle am Arbeiten. Außer Pietro, der fehlt. Er ist bei der Blutspende. Ich sehe mir die Rahmentypen genauer an. Mir fallen drei große Unterschiede auf. Am Hinterbau. Dario erklärt, dass die eine Variante, die von ganz früher sei (da schwingt sich das Ausfallenden formschön und schmal um die Nabe), die mit Muffe von mittelfrüher (auch eher schmal) und die moderne, Dicke (bei der die Stahlrohre durch einen Stahlhalbkreis abgefangen werden). Ertappt. Mir gefällt die Variante von ganz früher am Besten. Warum? Ich weiß es auch nicht, da bräuchte es jetzt eine tiefenpsychologische Analyse. Irgendeine Kombination aus ästhetischem Empfinden, früher war alles einfacher, Retro-Romantik, Erinnerung an Jugend, Nostalgie, Seelentrost und Sehnsucht nach Vertrautem. Ich bin eben doch auch nur ein Kind meiner Zeit.

Mittlerweile riecht es ein bisschen wie erhitzter Fondue-Topf. Pietro ist zurück und hat das Schweißen angefangen. Schweißen, das ist die Königsdisziplin, das macht entweder er oder Dario.

Mittagspause. Jeder hat sein Essen dabei, außer Dario, der zieht sich ins Kifferzimmer zurück, legt die Beine hoch, schließt die Augen und hört Musik. Sie spielt für Dario eine wichtige Rolle. Er benennt sogar Rahmen nach Alben. „Wish you where here“ von Pink Floyd zum Beispiel. Die anderen sitzen in der Küche um einen Tisch mit Plastikdecke, wieder einmal beleuchtet von ungnädigem Neonlicht.

Das Streben nach Vollkommenheit

Zeit, auch sie zu fragen: Was ist Darios Geheimnis? Seine Erfahrung, da sind sich alle einig. Denn trotz Vermessung, Zahlen, Rechnungen, Computerprogrammen etc. braucht es einen erfahrenen Blick, um den Kunden mit dem richtigen Rahmen glücklich zu machen. Da ist es wieder: Das Leben besteht nicht nur aus Zahlen. Dario empfiehlt seinen Kunden auch gern einmal gegen ihren Willen ein Rahmen-Modell. Dann, wenn er sich sicher ist, dass der eine doch eher der sportlichere oder aber der andere der gemütlichere Fahrer ist. Einer, der eher aus Spaß an der Freude fährt, kommt mit einer komfortableren Geometrie besser zurecht als einer, der sehr sportliche Ambitionen hat. All so was.

Dann kommt Lorella. Sie hat Dario bisher mit keiner Silbe erwähnt. Es ist seine Freundin. Von der Tochter seines Rahmenbaumeisters ist er schon lang getrennt. Wie lebt es sich mit Dario? „Schwierig“, sagt sie leise. Ein stilles Mäuschen mit zartem Händedruck. „Er lebt hier in seiner Werkstatt und seinem Büro“, sagt sie, „auch am Wochenende. „Um in Ruhe arbeiten zu können“, ergänzt er herrisch und zieht an seiner Zigarette, „vor allem die Büroarbeiten erledigen“. Über dem Tisch hängt ein Schild: Rauchen verboten.

Und dann sagt Dario noch etwas. Über Perfektion: Das Schöne daran sei, dass sie nie erreicht werde, man aber immer und immer wieder nach ihr streben könne.

Mittlerweile bin ich mir sicher: Dario und seine Kollegen sind nicht langsam, sie geben den Dingen bewusst Zeit, verweigern sich starrsinnig jeder Hektik und das mit Hingabe. Hier gilt Effizienz und Wachstum nichts. Nur Präzision. Wahrscheinlich, weil sie nach Vollkommenheit streben. Selten so was heutzutage.

(erschienen in Tour 10/2015)