Am Brauneck bei Bad Tölz werden in diesem Winter gleich drei Schwestern zu Lawinenhunden ausgebildet. Für Hexe, Cora und Chiara ist das ein Spiel, für ihre Hundeführer harte Arbeit. DOGS-Autorin Heidi Schmidt mimte die Verschüttete.

Bewegen kann ich mich kaum. Alles ist weiß. Oben stößt der Kopf an, meine Beine liegen gekrümmt, kribbeln, vor der Nase habe ich eine eisige Mauer. Ich liege in einem Schneeloch und warte auf Hilfe. Erst Stille, dann leises Hecheln, leichtes Schaben, und da, eine mit Schnee bestäubte Schnauze erscheint. Ich bin gerettet. Hexe, eine dunkle Langstockhaar-Schäferhündin, springt zu mir in die Kuhle und schnappt nach ihrem Beißknoten. Ihr Ausbilder Rolf Frasch ist zufrieden.

Zum Glück war ich nicht wirklich unter einer Lawine begraben, sondern steckte nur in einem präparierten Schneeloch an der Skipiste bei Lenggries. Von der benachbarten Hütte der Bergrettung höre ich das freudige Gebell von Chiara und Cora, es sind die Schwestern meiner Retterin. In ihrem Fell hat sich der Schnee verfangen, ihre spitzen Ohren bewegen sich hektisch im kalten Wind. Alle drei sind gerade einmal neun Monate alt und kommen aus einem Wurf vom Zwinger „Von der Hohensalzburg“. Gemeinsam werden sie zu Lawinenrettern ausgebildet. Rolf, Christoph und Toni, ihre Herrchen, sind alle drei bei der Bergrettung tätig, die im Winter hier auf dem Brauneck stationiert ist. Im Sommer arbeiten Toni und Christoph als Zimmerer. Rolf leitet zusammen mit seiner Freundin, einer Tiermedizinerin mit Schwerpunkt Verhaltenskunde, eine Hundebergschule.

Rolf Frasch ist der unausgesprochene Chef der Gruppe. Ein Mann mit Erfahrung. Er besaß bereits zwei Lawinenhunde und bietet zudem Rettungskurse auch für Laien an. Sein ehrgeiziges Ziel: Er möchte drei Hunde und drei Führer ausbilden, eine Gruppe, in der jeder mit jedem kann. Der Weg dorthin: Alle drei Bergretter trainieren immer zusammen mit den drei Hunden, sodass sich jeder an jeden gewöhnt. Die Idee kam Rolf Frasch, als sein Lawinenhund Eyka plötzlich starb. Er kannte Christoph und Toni von der Bergwacht. Christoph überlegte schon länger, sich einen Hund zum Suchhund auszubilden. Drei Tage nachdem Rolf sich für Hexe entschieden hatte, kam Chiara zu Christoph. Zuletzt wurde Toni von seiner Familie überredet.

ÜBUNG 1: SCHNEESUCHE

Für den ersten Teil der Ausbildung spiele ich als Figurant erst mit einem der Hunde oder zeige ein Leckerli, renne dann in das vorbereitete Schneeloch, während das Tier von seinem Führer gehalten wird, und lasse mich von den Bergwachtlern eingraben. Ist von mir nichts mehr zu sehen, wird der Hund freigelassen, ndet auf der Suche nach Wurst oder Spielzeug den vermeintlich Verunglückten und gräbt mich aus. Zur Belohnung gibt es das Leckerli von mir oder ein wildes Spiel. „Du musst wilder mit ihr spielen“, rügt mich Rolf. „Wenn du dich nicht richtig zum Affen machst, dann ist es zu wenig Belohnung für den Hund.“

Geübt wird in verschiedenen Schwierigkeitsstufen: das eigene Herrchen mit Sichtkontakt suchen bis hin zur Suche mehrerer Fremder ohne Sichtkontakt. Mittlerweile habe jede Hündin ihre Eigenheiten entwickelt, erklärt Rolf. Hexe liebt den Beißknoten und ist sehr auf ihn xiert. Chiara ist die Ruhigste und liebt Würstchen, die bekommt sie auch oft von Christophs Familie zugesteckt. Cora bellt am meisten und ist sehr streichelverwöhnt. Die Entscheidung für die Rasse Langstockhaar-Schäferhund fiel recht pragmatisch: Ein Arbeitshund sollte es sein, mit viel Unterwolle, damit er nicht zu kälteanfällig ist, verspielt, aber folgsam und von einem Züchter in der Nähe.

In der Hütte herrscht große Wiedersehensfreude: schnüffeln, spielen, rangeln, bellen. Christoph bereitet seiner Chiara einen Beutel voll Würstchen vor, und Rolf nimmt Hexe beiseite, um ihre Pfoten mit Melkfett einzuschmieren. Die Hündin hat sich am harschen Schnee geschnitten. „Wunden im Winter sind eine Katastrophe“, sagt Rolf. „Sie reißen ständig wieder auf und werden immer größer.“ Das Melkfett wird sie zumindest ein wenig schützen. Als Hexe davonhumpelt, klingelt das Telefon: Einsatz. Ein Sturz mit kurzer Bewusstlosigkeit. Die Hunde kommen in die Boxen, die Bergretter schwingen sich auf den Quad und eilen dem Skifahrer zu Hilfe. Eine Stunde sind sie mit der Bergung beschä igt. Indem sie ihre Einsatzbereitscha auf dem Brauneck mit der Hundeausbildung kombinieren, schlagen die Bergwachtler zwei Fliegen mit einer Klappe. Zwar geht die Rettung immer vor, es bleibt aber Zeit zum Üben am verschneiten Berg. Und Zeit, die braucht es.

ÜBUNG 2: SKIFAHREN

Es gäbe da drei Varianten, erklärt Rolf. Weil auf der Piste gerade viel los ist, kommt erst die sicherste zum Einsatz: Ganz fest packt er Hexe am Geschirr, setzt sie zwischen seine Skier, und los geht’s. Der Bergwachtler muss aufpassen, dass seine Kanten nicht an Hexes Pfoten kommen. Die Hündin interessiert das wenig. Mit vollem Elan gibt sie zwischen Rolfs Skiern Gas, teilweise so stark, dass ihre Vorderläufe ins Leere stoßen. Als nächste Übung hängt sich Rolf Hexe an die Brust, dafür hat er extra ein Geschirr entwickelt: eine grüne Weste mit Klettverschlüssen, an denen zwei Bandschlingen zum Fixieren befestigt sind. Mit zwei Karabinern wird der Hund samt Weste an die Tragegurte des Rucksacks geklickt. „Da muss man schon gut ranstehen“, meint Rolf und schwingt die 26 Kilo schwere Hündin elegant die Piste hinab. Bei der dritten Variante packt Rolf Hexe an den Vorderläufen und legt sie sich über seinen Rucksack um den Hals. Mit ihrer Zunge begrüßt die Hündin ihren neuen Nachbarn, den Helm. Als Rolf losfährt, lässt sie alle viere hängen, auch die Ohren. „Das Fahren mit Hund ist enorm wichtig. Das Tier darf nicht schon am Einsatzort außer Atem sein“, erklärt der Bergretter. Er begrüßt die Devise, Hunde zu unterstützen und Zeit zu sparen, denn schon nach einer Viertelstunde unter einer Lawine sinken die Überlebenschancen des Verschütteten beträchtlich. Und ein Hund kann nur dann gut Fährte aufnehmen, wenn seine Schnauze feucht ist. Hechelt er zu sehr, riecht er nichts. Im Schnee kommt erschwerend hinzu, dass die Geruchsintensität eines Lawinenopfers extrem von seinen Bedingungen abhängt. Ist der Schnee nass, kommt kaum etwas durch, ist er grobporig, können Hunde mehrere Meter tief riechen.

ÜBUNG 3: AUF LIFT UND QUAD

Anstellen, auf den Sessel warten und einsteigen. Hexe hockt auf dem schwarzen Plastikpolster, blickt skeptisch und mit hängenden Ohren zwischen den Bügeln nach unten. Dort itzen zahlreiche Skifahrer den Hang hinab. Kaum hat sie die entdeckt, stehen die Ohren wieder senkrecht, Höhe und ungewohnte Position hat sie vergessen.

Zurück an der Hütte übt Christoph das Fahren mit Hund und Quad. „Voran, voran“, ruft er, während Chiara nebenherspringt. Zur Belohnung gibt es wieder Würstchen. Leider klappt das nur einmal, dann hat seine Hündin die Lust verloren. Es dauert fast drei Jahre, bis Hund und Herrchen sich gegenseitig „lesen“ können und einander auch in extremen Situationen vertrauen. Das ist vor allem für die Menschen harte Arbeit. Für den Hund soll es Spaß sein. „Der arbeitet nur gegen Lohn“, das ist Rolfs Ansatz. Bei Hexe sind es Spiele, bei Chiara Würstchen, bei Cora beides. Der Ausbilder kennt viele Hunde, die mit einem Jahr super Suchhunde waren, danach aber extrem abgebaut haben. Rolf schiebt das auf zu viel Druck. „Wie bei einem Kind: Spielen macht nur ohne Druck Spaß.“ Er geht die Ausbildung langsam an. „Das Problem sind oft nicht die Hunde, sondern die Führer.“ Der Ausbilder müsse sehen, wann sein Hund genug hat, er darf ihn nicht überfordern und niemals Frust erzeugen. Die Bestrafung eines Hundes ist für Rolf und die anderen ein No-Go.

Müde kehren die Retter zurück zur Hütte. Bis sie richtige Lawinenhunde werden, steht noch ein weiter Weg bevor. Sie müssen sich an Hubschrauber gewöhnen, sollen sich mit Wortbefehlen oder per Handzei- chen steuern lassen und mehrere Verschüttete durch Grabearbeit anzeigen. Zwischendrin werden die sechs Retter immer wieder zu einem der überregionalen Kurse der Bergwacht gehen. Ob der Versuch, die drei Hunde auf die drei Herrchen abzurichten, gelingen wird? Das regelmäßige gemeinsame Training sowie die Tatsache, dass alle aus einem Wurf stammen, wird sicher helfen. Zum Abschied drehe ich mich um und sehe drei Männer ausgelassen mit drei Hunden im Schnee spielen. Spaß haben werden sie bei der Ausbildung, da bin ich sicher.

(erschienen in Dogs 1/2013)