Der tasmanische Overland Track gehört zu den spektakulärsten Wanderstrecken Australiens und ist genau das Richtige für Abenteuerlustige, die ihre Wildnisfähigkeit testen wollen.

© Christoph Michel

© Christoph Michel

Es ist eng, auf dem Kocher brodeln Linsen, die schweren Hosen und Jacken tropfen mit dem Schneeregen draussen um die Wette. Weil es nichts zum Unterstellen gibt, sind wir unter eines unserer Aussenzelte gekrochen. Vor zwei Stunden hätten wir für die Nacht noch die beheizte Kia Ora Hut wählen können, da standen wir an der Abzweigung, bei der ein Pfad weg vom Overland Track auf den Mt. Ossa führt. Der Gipfel war nicht zu sehen, trotzdem entschieden wir uns fürs Zelten auf dem Berg, voller Hoffnung auf Wetterbesserung und auch weil wir nur wegen dieses Gipfels seit drei Tagen Zelte auf dem Rücken mitschleppten – neben Töpfen, Gaskochern und Schlafsäcken Verpflegung für fünf Tage und Klamotten für alle Wetterlagen.

Im Banne der Westwinde

Wir – zwei Männer und eine Frau – sitzen gerade auf dem höchsten Berg Tasmaniens, vermutlich, denn so genau lässt sich das bei dieser Sicht nicht sagen. Die Linsen mit dem aufgeweichten Trockengemüse sorgen für eine Wärmeexplosion in unseren Mägen und machen aus durchgefrorenen, nassen Bündeln wieder halbwegs handlungsfähige Menschen: Innenzelt einhängen, zweites Zelt aufstellen und so schnell wie möglich in die feuchten Daunenschlafsäcke kriechen. Nach einer halben Stunde tun diese ihren Dienst und erreichen Höchstleistung. Es wird wohlig warm, man könnte sogar sagen gemütlich. Genau der richtige Augenblick für puren Outdoor-Luxus in Form einer Dose Bier. Dies ist wohl einer der wenigen Momente im Leben, in denen man es gerne warm trinken würde.

Als wir vor drei Tagen losgingen, war es fast zu heiss zum Wandern, Sommer eben. Wir bestiegen den Cradle Mountain, eine bizarre Felsformation, von dem aus wir bei phantastischer Fernsicht einen grossen Teil des Overland Track überblicken konnten. Gestern fing es dann an zu regnen, später zu schneien. Wir hatten zwar davon gehört, dass es auf der australischen Insel auch im Sommer Schnee geben könne, denn sie liegt im Bereich der Roaring Fourties. Das sind Westwinde, die das ganze Jahr wehen und für sehr unbeständiges Wetter sorgen, was wir uns als Wechsel von Sonne, Schnee, Regen und Wind vorgestellt hatten. Nicht als Wintereinbruch. Das Wetter sei in diesem Jahr aber auch sehr ungewöhnlich, versicherte uns heute ein entgegenkommender Ranger. Egal. Die Schönheit der Natur ist trotz dem schlechten Wetter beeindruckend: Tief klare Seen, karge Berge und riesige Eukalyptusbäume wechseln sich ab mit üppigen Wasserfällen, lichten Südbuchenwäldern und weiten Ebenen, in denen der Wind sachte die Gräser wiegt – ein Paradies.

Die Nacht auf dem Mt. Ossa wird wild. Es bläst, und hätten wir nicht Geld in den Kauf von winterfesten Zelten und Schweiss ins Schleppen investiert, wären wir ziemlich schnell ohne dagesessen. Am Morgen ist es dann ungewöhnlich still. Draussen liegt eine geschlossene Schneedecke, die Wolken hängen tief, und unsere Mühen werden leider nicht mit einem Sonnenaufgang am Berg belohnt. So bleibt uns nichts anderes übrig, als in die vor Nässe und Kälte erstarrten Klamotten zu schlüpfen, die gefrorenen Zeltstangen aufzutauen und zu versuchen, auf den rutschigen, schneebedeckten Steinen des Abstiegs ein Lauftempo zu finden, das wärmt. Glücklicherweise erreichen wir schon nach zwei Stunden die gestern verschmähte Hütte, heizen den Ofen ein und kleiden uns in das, was trocken geblieben ist. Der ganze Körper wehrt sich dagegen, die mollige Hütte wieder zu verlassen, aber es ist noch früh am Tag, der Raum eng und jetzt schon übervoll mit zwei deutschen Abiturienten, einer Gruppe älterer Männer aus Mel- bourne und zwei Pärchen, die sich vorbildlich Schokolade teilen. Und so siegt der Verstand, und es geht weiter.

Labiles Ökosystem

Der Weg führt, wie schon oft, auf schmalen Holzstegen über sumpfigen Boden, und wir sind wieder einmal ein wenig enttäuscht. Der Overland Track wird überall als «true wilderness walk» gepriesen, und wir hatten ihn uns etwas abenteuerlicher ausgemalt. Es gibt kaum Stellen, an denen man sich durchs Gebüsch schlagen müsste oder knietief durch Matsch watet, wie wir es auf ein paar Bildern im Internet gesehen haben. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das zuständige Department of Conservation die nicht an den Men- schen gewöhnte Natur schützen will. Jährlich trampeln rund 8000 Wanderer über den Pfad, und es wären wohl noch mehr, müsste der Track mittlerweile nicht gebucht werden. Seit sieben Jahren sind nur noch bis zu 120 Wanderer pro Tag zugelassen, die den Sommer über 180 australische Dollar (rund 175 Schweizerfranken) zuzüglich einer Nationalparkgebühr in Höhe von 30 australischen Dollar zahlen. Das klingt erst einmal nach viel, ist aber durchaus gerechtfertigt: Neben den Hütten – einmalig in Tasmanien – und den ausgebauten Wegen wird von dem Geld auch das aufwendige Toiletten-Rezyklier- System finanziert. Um das labile Ökosystem vor den menschlichen Exkrementen zu schützen, die es aus dem Gleichgewicht brächten, werden die 700-Liter-Behälter unter den Kloschüs- seln alle drei bis vier Wochen per Helikopter ausgeflogen, was jährlich rund eine halbe Millionen Dollar kostet.

Die Entscheidung weiterzugehen wird diesmal belohnt: Es hört auf zu schneien, und durch die märchenhaften Wälder ziehen Nebelschwaden. Moos wächst an silbernen Stämmen empor, die Wipfel schaukeln sachte im Wind, und von Zeit zu Zeit durchbricht das Knarzen uralter Bäume die Stille, sich abwechselnd mit den sonderlichen Lauten der tasmanischen Vogelwelt: karr- karr, cho-cho, wheeeeer-aoo-whooo. Schon ist vergessen, dass wir es nur dank einem aufwendig gepflegten Wegsystem hierher geschafft haben, und wir können nicht anders, als die Natur zu geniessen: «true nature» statt «true wil- derness». Liegt das kleine Missverständnis vielleicht darin begründet, dass unser Verständnis von «unberührt» ein extremeres ist als in Tasmanien?

Das Ende des heutigen Tages kommt mit der Bert Nichols Hut. Ganz neu herausgeputzt, schmiegt sie sich in das Dunkel des Waldes und bietet genug Platz und Wärme zum Wäschetrocknen. Zwischen dampfenden Socken, tropfenden Jacken und muffigen Unterhosen entdecken wir bekannte Gesichter: die junge Französin Helene, die aus Geldmangel Gamaschen aus Plastictüten trägt, Mohy, der nach Australien ausgewanderte Indonesier, und sein Freund Alex, ein riesiger Russe. Immer wieder sind sie uns in den letzten Tagen begegnet. Ganz anders als am Anfang, als wir uns noch bewusst abgegrenzt haben, freuen wir uns, sie zu sehen. Wir alle suchen Abstand zum städtischen Alltag und sind erpicht auf kleine Abenteuer. Verglichen mit den Pionieren, die vor über einhundert Jahren damit anfingen, aus Entdeckerdrang Pfade durch den tasmanischen Busch zu schlagen – ohne Landkarte, nachts auf abgeschlagenem Unterholz schlafend –, sind wir kleine Würstchen. Verglichen mit den Wanderern der geführten Touren aber, die in ihrer eigenen Hütte nach einer Dusche mit einem Glas Wein auf einem roten Sofa sitzen und vom Helikopter eingeflogenes Essen geniessen, dürfen wir uns schon als harte Kerle fühlen. 2800 australische Dollar für sechs Tage kostet das Vergnügen in den privaten Hütten. Auch wenn wir insgeheim ein wenig neidisch sind, sind wir uns schnell einig, dass es doch viel schöner ist, im Halbdunkel des Bollerofens zu sitzen.

Mittlerweile ist es dunkel und höchste Zeit, ins Bett zu gehen. In den ungeheizten Schlafräumen stehen Stockbetten, in denen die Wanderer nebeneinander aufgereiht auf purem Holz liegen. Für Komfort und Wärme in Form einer Isomatte müssen sie selbst sorgen. Die Wände zwischen den Zimmern sind so dünn, dass sich der lauteste Schnarcher sicher sein kann, von ausnahmslos allen anderen gehört zu werden.

Zurück in die Zivilisation

Am nächsten Morgen ist alles anders: Es ist egal, dass es wieder regnet, denn es geht zurück in die Zivilisation. Seit Tagen ist in unseren Köpfen eine ge- naue Vorstellung von dem entstanden, was uns in der Stadt erwartet. Endlich sind das zartrosa Steak, der frische Salat und das grosse Stück Kuchen mit Bee- ren und Sahne in erreichbare Nähe gerückt. Die Rucksäcke sind ohne Essensvorräte ganz leicht, und die zweieinhalb Stunden bis zum Lake St. Clair sind im Nu vorbei. Dort wartet die vor fünf Tagen gebuchte Fähre und bringt rund 20 erschöpfte Wanderer über den See. Es hätte auch einen Weg gegeben, um zu laufen, das zieht von der Gruppe momentan aber keiner in Betracht. Genug Wildnis, genug Abenteuer, ge- nug Natur und vor allem genug Regen, Kälte und Schnee.

Zurück aus dem Busch, treffen wir den Bushwalking-Guru John Chapman. Eigentlich war er von Anfang an dabei, denn nach seinen Beschreibungen haben wir uns auf dem Overland Track gerichtet. Manchmal sind wir schier daran verzweifelt, seine Zeitangaben nie erreicht zu haben. Wir haben eine Art Übermenschen erwartet. An der Bahnstation in einem Melbourner Vorort begrüsst uns dann ein hagerer 58-Jähriger. Sein Schritt ist sogar auf dem Teer so, dass wir kaum mithalten können. «Es gibt einen guten Grund dafür, dass es für Wandern in Tasmanien ein eigenes Wort gibt», erklärt er, «‹Bushwalking› ist nicht zu vergleichen mit ‹Trekking›. Tasmanien ist Wildnis pur. Der Overland Track zwar nicht so sehr», gibt er zu, «alles andere umso mehr. Und der Tasmanier liebt es so.» Wilde Kerle, diese Südländer, und wir sind uns einig, dass wir wiederkommen wollen, um mehr tasmanische Wildnis zu entdecken – obwohl wir uns am Ende des Overland Track nach der Zivilisation gesehnt haben. Oder gerade deswegen.

(erschienen am 27.04.12 in der NZZ)