Die „richtige“ Kluft für die Wiesn, gibt es die? Stefan Hirsch, einer der besten Kenner der bayerischen Trachtengeschichte, sagt: nein. Im Gespräch mit Heidi Schmidt korrigiert er so manchen Irrtum über das Bajuwaren-Outfit.

© Heidi Schmidt

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WELTKUNST: Gibt es die richtige Tracht fürs Oktoberfest?

Stefan Hirsch: Nein, das Oktoberfest war von seinem Ursprung her kein Trachtenfest. Niemand hat da je auch obrigkeitliche Kleiderordnungen erlassen. Richtig oder falsch ist hier eher die Frage nach der persönlichen Einschätzung, ob man sich zum Anlass eines Volksfestes passend oder weniger passend angezogen fühlt. Es gibt wunderbare historische Fotos von Besuchern, die ganz einfach im damals üblichen oder modischen bürgerlichen Gewand – das auch die Landbevölkerung längst über- nommen hatte – auf die Wies‘n gingen.

WELTKUNST: Unterscheiden sich Trachten nach Regionen?

Stefan Hirsch: Was man trug – Tracht kommt ganz einfach von tragen, unterschied sich früher zuallererst nach Ständen und Schichten. Der Adel trug Eleganteres als das Bürgertum und das Bürgertum Aufwendigeres als die bäuerliche Bevölkerung oder das fahrende Volk. Herausgehobene gesellschaftliche Gruppen wie Klerus, Militär oder Beamtenschaft unterstrichen darüber hinaus ihre Funktion und Rolle mit di erenziert gestuften Kleidungssymbolen. Regionale Unterschiede hatten sich vornehmlich bei der Tracht der Landbevölkerung herausgebildet, teils verursacht durch die geringere Mobilität dieser Schicht, teils bedingt durch technische und ästhetische Eigenheiten von regional tätigen Näherinnen und Schneidern, aber auch geprägt von territorialen herrschaftsgeschichtlichen Besonderheiten, beispielsweise nahe beieinanderliegender, konfessionell unterschiedlicher Dörfer. Auch verkehrsgeografische Hindernisse wie Flüsse oder Gebirgszüge haben die Ausbildung einiger sogenannter Trachteninseln mit bewirkt. Im heutigen Zeitalter nivellierter Trachtenfolklore mit Freizeitfunktion vermitteln Trachten mit regionalen Kennzeichen nur noch „simulierte Authentizität“.

WELTKUNST: Seit wann gibt es die heutige Vorstellung von Tracht?

Stefan Hirsch: Im 17. Jahrhundert kursierten schon Begriffe wie „germanisches Nationalkostüm“, während die Vorstellung einer bayerischen Nationaltracht – im übrigen eine rein politische Fiktion des Hauses Wittelsbach – erst im Zuge des nach der Aufklärung neu entstandenen Königreichs Bayern virulent wird. Damit verengt sich auch im Lauf des 19. Jahrhunderts der Begriff Tracht, der eigentlich einst mit Kleidung identisch war, zunehmend auf ländlich-Altartiges, Folkloristisches und Regionales.

WELTKUNST: Welche Funktionen hatten Trachten?

Stefan Hirsch: Zu den klassischen Funktionen von Trachten im weiten Sinn von Kleidung ganz allgemein zählte in der alten Ständegesellschaft vorwiegend die nonverbale Kommunikation: Es sollte Rolle und Bedeutung des einzelnen Trachtenträgers entsprechend vermittelt werden. Im 19. Jahrhundert wurden Trachten darüber hinaus als optisch werbewirksames Mittel staatlicher Identitätsbildung entdeckt, denen man entsprechende Geschichtstiefe zuschrieb oder ihnen verpasste, weil man nicht wahrhaben wollte, dass Trachten schon immer einer gewissen Mode unterlagen und ihre Formen entsprechend kurzlebig waren.

WELTKUNST: Warum hat sich die Tracht besonders in Bayern erhalten?

Stefan Hirsch: Es gibt sehr viele verschiedene Trachten in Bayern, von denen in der Regel aber nur eine, nämlich die vereinsgeprägte Gebirgstracht mit Schwerpunkt Miesbach, medial wahrgenommen und als Klischee entsprechend verbreitet wurde und wird. Es gibt zwei Gründe, weshalb man meint, in Bayern habe sich Tracht besonders erhalten: Einmal ist es die mediale und feiertägliche optische Präsenz von Trachtenvereinen mit Mitgliederzahlen in sechsstelliger Höhe. Die Tracht, die im Zusammenhang mit Trachtenvereinen seit ihrer Gründung von 1883 getragen wird, ist aber genau dies, was man allgemein nicht trägt, sie hat eher die Funktion einer folkloristischen und vielfach uniformierten Gruppenkleidung mit Rückgriff auf ehemalige Trachtenelemente übernommen. Und paradoxerweise hat dies dazu beigetragen, dass die allgemeine Bevölkerung vom selbstverständlichen, schlichten Tragen von Trachten – im Sinn ihrer regional üblichen Kleidungsgewohnheiten – im Alltag vermehrt abgerückt ist. Zum anderen werden gerne Trachten im Zusammenhang mit dem Oktoberfest in alle Welt kolportiert – und dieses hat sich als riesiges (Trachten-)Maschkera-Fest entwickelt, wohl deshalb, weil der einstige Münchner Fasching auch nicht mehr „des is, was er amal war“.

WELTKUNST: Welche großen Trachten-Irrtümer gibt es?

Stefan Hirsch: Früher habe jedes Dorf seine eigene, über Jahrhunderte stabile Tracht gehabt und man habe sofort erkennen können, woher einer komme. Oder: Tracht ist der Gegensatz zur Mode. Oder: Tracht ist ein Bekenntnis zur Heimat. Und, und, und.

WELTKUNST: Gehören Tracht und Kirche zusammen?

Stefan Hirsch: Heute ja. Die Kirche hatte sich aber – mit einer kuriosen Ausnahme eines Geistlichen in Oberhausen bei Augsburg – noch bis nach dem Ersten Weltkrieg offziell geweigert, Trachtenvereinsfahnen zu weihen, weil die Trachtenvereine in den ersten Jahrzehnten ihrer Geschichte äußerst kirchenfeindlich eingestellt waren. Historisch entstanden die Trachtenvereine im Umfeld der Bergarbeiter und sozial nicht abgesicherter Schichten – grundbesitzende Bauern findet man in der Anfangszeit nicht unter den aktiven Mitgliedern von Trachtenvereinen.

WELTKUNST: Wie hat sich das Trachtenverständnis gewandelt?

Stefan Hirsch: Eine von mehreren Wandlungen des Trachtenverständnisses im Lauf der letzten Jahrzehnte kann man am Beispiel von Blaskapellen sehr gut studieren. Klassischerweise traten diese noch bis in die Nachkriegszeit in ihrem normalen, besseren oder schon etwas mitgenommenen bürgerlichen Sonntagsgewand auf, gelegentlich auch in pseudomilitärischen Uniformen, die man im Musikzubehörhandel erwerben konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Trachtenidee auf. Zunächst mussten Frauen wegen des Männermangels integriert und getarnt werden, sodass man ihnen Männertrachten anzog. Dann durften sie Röcke tragen, aber immer noch prägten Männerjoppen, Männerhüte und Männerschuhe das Bild. Es folgte die Einführung einer Weste mit miederartigem Geschnür unter der Männerjoppe. Nach und nach wurden schließlich auch die Hüte, Joppen und Schuhe „geschlechtsumgewandelt“.

WELTKUNST: Wie erklären Sie sich die Renaissance der Tracht?

Stefan Hirsch: Aus dem mangelnden Wissen der vielen Trachtenbegeisterten über das, was sie tragen. Der eigentliche Grund ist aber sicherlich das Bedürfnis, sich Sehnsuchts- und Gegenwelten zu gönnen, um wenigstens temporär den Zwängen der technischen Zivilisationswelten mit dem Flair scheinbar heiler Ländlichkeit zu entkommen.

Stefan Hirsch, geb. 1946 in München, studierte Romanistik, Kunstgeschichte sowie Musikwissenschaft und volontierte am Studio Rom des Bayerischen Rundfunks. Von 1969 bis 1979 arbeitete er als freischaffender Filmproduzent, Regisseur und Kameramann. Im Anschluss war er bis 1989 stellvertretender Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Seit 22 Jahren ist er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern und hat zahlreich zu dem Thema veröffentlicht.

(erschienen in Weltkunst 10/2012)